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ARTIKEL
Von Michaël Oblin,
Head of Buy-Side Fixed Income
EINLEITUNG
Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine lösten einen Energiekrieg zwischen Russland und Europa aus, der die Energiepreise und vor allem die Strompreise schwer belastet. Aufgrund dieser außergewöhnlichen Umstände wollen wir einen Überblick geben und uns ansehen, wie die Großhandelspreise für Strom festgelegt werden und wie das europäische Strommarktsystem in Zukunft aussehen soll.
Deutscher Day-ahead-Strompreis in EUR/MWh
Quelle: Bloomberg
AKTUELLER AUFBAU DES EU-STROMMARKTS
Das aktuelle Strommarktsystem basiert auf dem Merit-Order-Modell, bei dem sich der Marktpreis nach den Kosten bestimmt, die bei einem Kraftwerk für die letzte produzierte Megawattstunde anfallen.
Die erste Grafik zeigt, dass erneuerbare Energien (Wind, Sonne und Wasser) die niedrigsten Grenzkosten für die Stromerzeugung haben, da Sonne, Wind und Regen „kostenlos“ sind. Daher und, weil Wind- und Sonnenenergie nicht flexibel sind (diese natürliche Energie kann nicht jederzeit bei Bedarf erzeugt werden und ist diskontinuierlich, d.h. nicht immer gleichmäßig verfügbar), stehen im Merit-Order-Modell an erster Stelle die erneuerbaren Energien. Dann kommt die Kernenergie, da sie hohe Fixkosten, aber niedrige Betriebskosten hat. Darauf folgen thermische (kohlenstoffreichere) Technologien, wie Braunkohle, Steinkohle oder Gas, bis der Strombedarf zu einem gegebenen Zeitpunkt gedeckt ist. Im Gegensatz zu erneuerbaren Energien und der Kernenergie sind die Betriebskosten von Gas- und Kohlekraftwerken großteils variabel, da die Kosten in erster Linie vom Brennstoff selbst bestimmt werden. Bei beiden thermischen Technologien ist auch der Preis der CO2-Emissionsrechte gemäß dem EU-Emissionshandel zu berücksichtigen. Diese machen einen Großteil der Stromerzeugungskosten aus.
Dieses Marktsystem wird als “Merit-Order” bezeichnet und bestimmt den Strompreis auf den Großhandelsmärkten (d. h. die Betriebskosten für die Erzeugung der letzten benötigten Megawattstunde). Mit anderen Worten: Das letzte Kraftwerk, das zur Deckung der Nachfrage in einem bestimmten Zeitraum benötigt wird, legt die Preise fest, und alle Erzeuger erhalten den gleichen Preis für ihren Strom.
Wie wir in der ersten Grafik sehen können, wird der Strommarktpreis von der letzten Megawattstunde bestimmt, die von einem Kohlekraftwerk produziert wird. Erhöht sich der Strombedarf, kann es sein, dass Gaskraftwerke benötigt werden. Dann wären die Kosten für die Erzeugung der letzten Megawattstunde höher.
Außerdem ist auf der zweiten Grafik oben der positive Preiseffekt des massiven Einsatzes erneuerbarer Energiequellen zu sehen, die (unter der Annahme eines konstanten Strombedarfs) zu niedrigeren Strompreisen im Großhandelsmarkt führen würden, da die teureren Technologien (Kohle- und Gaskraftwerke in der Grafik) im Merit-Order-Modell weiter ans Ende rücken würden. Dazu wären jedoch in Zukunft große Stromspeicherkapazitäten erforderlich, da die ungleichmäßige Verfügbarkeit erneuerbarer Energien stets eine gewissen Reserve, normalerweise thermische Kraftwerke, und zusätzliche Verbindungsnetze über die Länder Europas hinweg erfordert.
Die EU will ihre Gas-, Kohle- und Ölimporte aus Russland über ihren REPowerEU-Plan reduzieren und Russland hat seine Gasexporte nach Europa drastisch gesenkt. Wir stehen am Anfang einer neuen Ära, in der diese thermischen Rohstoffe teurer denn je werden.
Dieses Merit-Order-System und der Preismechanismus erklären, weshalb sich ein starker Anstieg der Kohle- oder Gaspreise so stark auf die europäischen Energiepreise und damit auf die Inflationsrate auswirkt.
WIE WERDEN DIE EU-MITGLIEDSTAATEN DIESE STROMPREISPROBLEMATIK KURZFRISTIG LÖSEN?
Als erste Reaktion auf den raschen Anstieg der Strompreise auf dem gesamten Kontinent wurden Unterstützungsmaßnahmen für gefährdete (vulnerable) Verbrauchergruppen eingeführt, wie die Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf Energie oder einmalige Entlastungszahlungen. Diese Maßnahmen wirken sich direkt auf die Energierechnung der Verbraucher aus.
Eine zweite Initiative war der Vorschlag des spanischen Premierministers Pedro Sanchez, das Merit-Order-System zu ändern und somit den Strompreis vom Gaspreis abzukoppeln. Dies ist vor allem für Spanien und Portugal wichtig. Diese Länder verfügen über eine hohe Stromproduktion aus erneuerbarer Energie und sind aufgrund der wenigen Leitungen über die Pyrenäen fast vollständig vom restlichen Energiemarkt der EU abgeschnitten.
Drittens wollen einige europäische Länder eine Steuer auf die außergewöhnlichen Gewinne von Stromproduzenten infolge dieser außerordentlichen Marktbedingungen einführen. Diese sogenannte „Zufallsgewinnsteuer“ soll dazu dienen, die Mehrwertsteuersenkungen, die Entlastungszahlungen oder ähnliche staatliche Maßnahmen zu finanzieren. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, ist es fraglich, ob diese „Zufallsgewinnsteuer“ für alle Strommengen gelten soll. Der größte Teil des erzeugten Stroms wird normalerwiese am Markt auf Termin verkauft (d.h. abgesichert) und generiert kurzfristig keine außergewöhnlichen Gewinne. Außergewöhnliche Gewinne würden nur durch den Verkauf der Absicherungen oder den Terminverkauf künftiger Strommengen erzielt werden, die in zwei oder drei Jahren produziert werden, aber nicht jetzt.
Wenn die Zufallsgewinnsteuer nicht entsprechend angepasst wird, könnte sie das Vertrauen von Investoren zerstören oder zu einem Investitionshemmnis werden.
Schließlich kündigte die Europäische Kommission Anfang September eine Preisdeckelung für europäischen Strom an:
WIE SOLLTE SICH DER EUROPÄISCHE STROMMARKT MITTEL- BIS LANGFRISTIG ENTWICKELN?
Gegenwärtig wird der Großhandelspreis für Strom vom teuersten Brennstoff bestimmt. Die Funktionsfähigkeit des aktuellen Strommarkts, insbesondere hinsichtlich der Investitionssignale, ist fraglich, und zwar vor allem langfristig, wenn der Marktanteil erneuerbarer Energien (bei denen der Kraftstoff nichts kostet und die variablen Kosten annähernd gleich null sind) in einigen Ländern fast 100 % beträgt.
In einem Bericht der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) kommen die dort vertretenen nationalen Regulierungsbehörden Europas zu dem Schluss, dass das Merit-Order-Modell die Verbraucher besser vor noch höheren Schwankungen schützt als alternative Modelle. Überdies ermögliche das Merit-Order-Modell, dass saubere Energiequellen mit höheren Kapitalkosten und niedrigeren Betriebskosten die Kapitalkosten decken können, und setze Investitionsanreize in neue Technologien, die mehr Flexibilität ermöglichen, wie Energiespeicherung oder Veränderungen der Verbraucherlast. Schließlich weist der ACER-Bericht darauf hin, dass die Notwendigkeit, in die Funktion des Strommarkts einzugreifen, angesichts der aktuellen Umstände umsichtig geprüft werden müsse. Nötigenfalls solle die Politik wenigstens sicherstellen, die Ursache des Problems anzugehen (die aktuellen Gaspreise) und nicht das Strommarktsystem selbst.
Angesichts des neuerlichen Impulses, die Gasversorgung der EU zu diversifizieren, dürfte der Gaspreis in den kommenden Jahren zunehmend vom globalen LNG-Markt bestimmt werden. Infolgedessen berücksichtigt diese ACER-Bewertung einige wichtige Entwicklungen, die sich auf den LNG-Markt auswirken. Insbesondere empfiehlt ACER der Politik und anderen Akteuren, ein besonderes Augenmerkt auf die Mechanismen zur Abfederung des Gaspreisrisikos zu richten und sicherzustellen, dass eine zusätzliche Gasversorgung die rückgängigen Lieferungen von russischem Gas ausgleichen kann. Zu diesen Maßnahmen gehören beispielsweise bessere langfristige Verträge und erhöhte Gasreserven. Beide Maßnahmen haben jedoch ihre Kosten.
Preissignal für den Einsatz erneuerbarer Energien
Um ihre Zielvorgaben zur Senkung des Kohlenstoffausstoßes und eine größere Energieunabhängigkeit zu erreichen, muss die EU die emissionsarme Stromerzeugung massiv ausbauen. Dieser massive Ausbau der Stromerzeugungskapazitäten aus erneuerbaren Quellen und der Stromverbundkapazitäten zwischen den Ländern, wie er im REPowerEU-Plan und im „Fit für 55“-Paket enthalten ist, erfordert klare langfristige Preissignale, wie zum Beispiel:
Preissignal für eine erhöhte Flexibilität des europäischen Stromsystems
Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien ist zum größten Teil diskontinuierlich. Das heißt, eine höhere Preisvolatilität ist vorprogrammiert. Daher muss der Markt in Zukunft so gestaltet sein, dass er entsprechende Preissignale aussendet, um den Flexibilitätsanforderungen gerecht zu werden. Mit fossilen Brennstoffen betriebene Kraftwerke (wie Gas- und Kohlekraftwerke) sowie Wasserkraftwerke mit großen Speichern können die nötige Flexibilität zum Ausgleich für die diskontinuierliche Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien verschaffen. Beim Ausstieg aus fossilen Brennstoffen müssen Alternativen gefunden werden, die diese Flexibilität bieten, wie zum Beispiel kohlenstoffarme Brennstoffe (wie kohlenstoffarmer Wasserstoff, Biomethan oder Biomasse) oder flexiblere erneuerbare Energien. Zudem kann die Flexibilität dieser Technologien durch eine erhöhte Speicherung von (erneuerbarem) Gas, eine Diversifizierung der Ressourcen und bessere Leitungen für Strom und (erneuerbares) Gas erhöht werden.
Ein deutliches Preissignal ist unerlässlich, um Investitionen in diese flexiblen Ressourcen anzuziehen. Ohne ein solches Preissignal kommt es nur schwer oder gar nicht zu Innovationen auf dem Gebiet neuer Technologien, die im Preis nicht immer mit fossilen Brennstoffen wettbewerbsfähig sind.
Schließlich können zur Wertfestsetzung eines flexiblen Stromsystems auch finanzielle Anreize für Verbraucher herangezogen werden, die ihren Stromverbrauch bei Bedarf drosseln (sog. „Demand Response“). Ein erstes merkliches Anzeichen ist in dem Vorschlag der Europäischen Kommission zu sehen, eine Verpflichtung einzuführen, den Stromverbrauch während ausgewählter Spitzenpreiszeiten um mindestens 5 % zu senken (Einzelheiten zur Umsetzung sind noch festzusetzen).
FAZIT
Die europäischen Strommarktpreise sind durch die aktuellen Liefereinschränkungen für Gas aus Russland verzerrt. Die Grundlagen der Strompreisbildung wurden erläutert. Dabei haben wir jedoch darauf hingewiesen, dass entsprechende Preissignale in Zukunft erforderlich sind, um den Ausbau erneuerbarer Energien in Europa sowie die nötige Flexibilität des Stromsystems sicherzustellen.
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