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CIO’S VIEW

Das Risikoszenario

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Von Peter De Coensel,
CIO Fixed Income bei DPAM

STAND DER DINGE

    • Am vergangenen Mittwoch schlug die FED auf der Grundlage einer erweiterten Forward Guidance einen neuen geldpolitischen Kurs ein. Im Wesentlichen teilte der FED-Vorsitzende Jerome Powell der Öffentlichkeit mit, dass der Leitzins bis 2023 an der Untergrenze (Zero Lower Bound) bleiben werde. Über diesen Zeithorizont würde die Inflation bis 2022 unter dem Ziel bleiben und 2023 ihr Ziel erreichen. Zudem würde die Arbeitslosigkeit bis dahin von den heutigen 8,4% auf etwa 4% sinken. So das Basisszenario der FED. Die Marktteilnehmer halten dieses Szenario weiterhin für sehr wahrscheinlich, wenn man nach unserem bevorzugten Inflationsindikator urteilt, d. h. nach den 5Y5Y-Forward-Inflation-Swap-Rates, die die Woche bei rund 2,10% schlossen.

    • Da die Hauptkaufprogramme für Treasuries und MBS jeden Monat 120 Milliarden USD absorbieren, brauchen wir aggressive Abverkäufe bei Anleihen nicht zu fürchten. Die Anleihenmärkte folgen dieser impliziten Zinskurvensteuerung. Der Nominalsatz 10-jähriger Treasuries verharrt seit März in einer engen Bandbreite. Kurzfristig sehen wir nicht viele Ereignisse, die die Zinsen 10-jähriger Treasuries aus dem Bereich zwischen 0,50% und 1,00% ausbrechen lassen könnten. Die Gewinne des 3. Quartals und die US-Präsidentschaftswahlen könnten einen Test in beide Richtungen auslösen. Doch mit der bis 2024 vorherrschenden Nullzinspolitik ist die Wahrscheinlichkeit eines Ausscherens nach oben geringer als die Wahrscheinlichkeit für einen Test auf dem Niveau von 50 Basispunkten (Bp.). All dies bedeutet, dass die 10-jährigen Realzinsen tief im negativen Bereich verbleiben dürften, solange die 10-jährigen Inflationserwartungen weiter auf den derzeitigen Niveaus von 1,70% oder darüber liegen. Zurzeit schwanken die 10-jährigen Realzinsen um -1,00%. Ähnliche Niveaus sind in Europa zu verzeichnen. Die aktuelle Marktlage weist ein hohes Maß an Stabilität und Vorhersagbarkeit auf. Das System ist in der Lage, mit den anhaltend negativen Realzinsen fertigzuwerden, die die Marktteilnehmer akzeptieren, weil sie es für sehr wahrscheinlich halten, dass es den Zentralbanken gelingen wird, die Inflation im Laufe der Zeit über 2,00% steigen zu lassen. Was kann also schiefgehen? An diesem Punkt erstellen wir Risikoszenarien. Der nächste Abschnitt geht auf mögliche schlechte Entwicklungen ein.

    • Eine schlechte Entwicklung oder das Risikoszenario hängt mit der Unfähigkeit der Zentralbanken zusammen, ihre Inflationsziele zu erreichen. Um eine gesunde Inflation herbeizuführen, muss die Grundvoraussetzung für reales Wirtschaftswachstum gegeben sein. Wirtschaftswachstum wird real und bei Vollbeschäftigung definiert. An diesem Punkt ist es wichtig, sich an die Wirtschaftslehre zu halten. Wirtschaftswachstum unterscheidet sich von Expansionen (positive Produktionslücken) und Kontraktionen (negative Produktionslücken). Expansionen und Kontraktionen schwanken um die Entwicklung des Wirtschaftswachstums bei Vollbeschäftigung. Echtes Wirtschaftswachstum bei Vollbeschäftigung wird erreicht, wenn einer der folgenden Faktoren sich verbessert oder wächst: Technologie, Arbeit (Humankapital) oder Kapitalstock. Diese Faktoren repräsentieren die Produktionsfunktion. Sich verbessernde Produktivität und die Verschiebung der Transformationskurve sind zwei Ergebnisse, wenn sich im Laufe der Zeit Wirtschaftswachstum einstellt. Zurzeit befinden wir uns in einer tiefen weltweiten Kontraktion. Das erklärt die konjunkturbelebenden Politiken der Zentralbanken und Regierungen, die versuchen, die negative Produktionslücke so schnell wie möglich zu schließen. Es erklärt auch, warum die EZB und die FED hoffen, in drei Jahren Ergebnisse zu erzielen – bestenfalls. Zurzeit leben wir sozusagen in einer 90%-Wirtschaft. Zunächst müssen wir aufholen. Wenn es ihnen also gelingt, die Produktionslücke zu schließen, kommen erst die echten Herausforderungen auf uns zu … Technologische Innovationen, besser ausgebildete Arbeitskräfte, eine solide Demographie oder die Erhöhung des Kapitalstocks könnten das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Wenn Technologie (totale Faktorproduktivität) nicht in der Lage ist, höhere Produktivitätsniveaus herbeizuführen, sich die Qualität der Bildung nicht verbessert und nicht gleichmäßiger verteilt wird oder Investitionen in den Kapitalstock aufgeschoben werden, wird das Wirtschaftswachstum zum Stillstand kommen … Dies könnte sich in einer anhaltenden Disinflation/Deflation über das vor uns liegende Jahrzehnt niederschlagen. Eine solche Entwicklung würde Aufwärtsdruck auf die Realzinsen ausüben, da die Inflationserwartungen zurückgingen. Nach der Fischer-Gleichung ist reales Wirtschaftswachstum gleich dem realen risikofreien langfristigen Zins plus Inflationserwartungen. Wir wollen diese Botschaft noch einmal wiederholen. Wenn man erwartet, dass das reale Wirtschaftswachstum im oben erwähnten Sinne weiter an Dynamik verliert (seitwärts tendiert oder rückläufig ist), könnten die Realzinsen beginnen zu steigen, da die Inflationserwartungen nachlassen. Über die vergangenen 70 Jahre befinden sich die realen Wachstumsraten auf einem Abwärtstrend und liegen heute bei etwa 1,00% im Jahresvergleich (YoY). In einem von Disinflation/Deflation geprägten Ökosystem könnten Unternehmensanleihen ihren Goldilocks-Status verlieren, da die Marktteilnehmer eine höhere Risikoprämie fordern würden. Überschuldete Unternehmen würden unter ihrer zunehmenden Schuldenlast zusammenbrechen. Das Risikoszenario auf der Basis mangelnden oder rückläufigen Wirtschaftswachstums würde ein Engagement in hochwertigen nominalen Staatsanleihen erfordern. Im Wesentlichen würden 10-jährige US-Treasuries dem von anderen G10-Ländern eingeschlagenen Weg folgen, nämlich dem in Richtung 0%. Theorien im Zusammenhang mit der nachlassenden Wirkung technologischer Fortschritte, jährliche Raten des Bevölkerungswachstums, die kaum positiv sind, oder die Last von notleidendem Kapitalstock verleihen dem oben beschriebenen Szenario Glaubwürdigkeit. Es würde auch die Aktienmärkte destabilisieren. Goldbären kämen wieder zum Vorschein. Diesen Ereignissen würden Finanzmärkte vorausgehen, die ruhig und träge wären. Durch die extreme Verschuldung werden die Einkommen der nächsten Generation mit Hypotheken belastet und lässt das Wirtschaftswachstum am Boden. Um ganz offen zu sein, ist dies das Basisszenario renommierter Anleger.

BEWERTUNGEN

    • Auf der Zinsstrukturkurve von US-Treasuries war in der vergangenen Woche ein leichtes Bear Steepening zu verzeichnen. Es könnte Aufwärtsdruck auf die Nominalzinsen aufkommen, wenn die Zusammenarbeit zwischen Geld- und Fiskalpolitik zu eng wird. Ohne es Monetarisierung von Schulden zu nennen, wird der Markt die FED weniger als „Lender of last resort“, sondern vielmehr als „Spender of last resort“ betrachten. Kurzfristige Konjunkturanreize durch erhöhte Staatsausgaben fallen eindeutig in den Bereich der Fiskalpolitik. Doch die derzeitigen Kaufprogramme der FED (direkt und über ETFs) zur Lockerung der Kreditbedingungen haben eine Eigenkapitaldeckung (First Loss Absorption), die vom US-Finanzministerium bereitgestellt wird. Derartige Konstellationen verwischen die Grenzen zwischen der geldpolitischen und der fiskalpolitischen Funktion. In dem Moment, in dem die Verbindlichkeiten der FED zu einem gesetzlichen Zahlungsmittel werden, wodurch der Federal Reserve Act verletzt würde, wird die Inflation schnell ansteigen. Für Verfechter der Modern Monetary Theory ist dies im Grunde der Weg, den es zu gehen gilt. Seien Sie also vorsichtig bei dem, was Sie sich wünschen. Währenddessen schlossen die 10-jährigen US-Zinsen die Woche mit einem Plus von 2 Bp. bei 69 Bp., während die 30-jährigen Zinsen um 4 Bp. auf 1,45% stiegen. Man darf mit Käufern rechnen, wenn die 10-jährigen über 75 Bp. steigen oder die 30-jährigen die 1,50%-Marke durchbrechen.

    • Wir könnten den Abschnitt über Staatsanleihen der EWU der letzten Woche übernehmen. Keine Veränderung in der Zinslandschaft der EWU. Allerdings schloss der EONIA 1Y1Y Forwards bei -0,575% gegenüber -0,56% in der vergangenen Woche. Es ist zu erwarten, dass das Gerede über eine Anpassung des Leitzinses der EZB in den nächsten Wochen lauter wird.

    • Dasselbe gilt für den europäischen Markt für Unternehmensanleihen mit Investment-Grade-Rating (IG). Interessanterweise beginnen bedeutende Investmentbanken mit Sitz in London, ihre Spread-Ziele für Ende 2020 nach unten zu korrigieren. Mit einem Schluss der EUR-IG-Spreads bei 1,13% tendieren diese der Zielmarke für Ende 2020 in Richtung 1,00%. Das Hauptargument betrifft technische Nachfrage-Angebot-Aspekte. Bei dem bis auf weiterem unstillbaren Kaufhunger der EZB lassen sich derartige Vorhersagen leicht machen. Doch diese Argumente haben wenig zu tun mit der Bewertung von Unternehmensanleihen. Ich rate Anlegern, sich weiterhin auf die vier Kernfragen zu konzentrieren. Wie hoch ist die Fähigkeit von Unternehmen, Bilanzen durch gesundes Ertragswachstum und Rentabilität zu verbessern? Sind Vermögenswerte, die als Sicherheit dienen, wertvoll und marktgängig für den Fall, dass Veräußerungen erforderlich werden? Hält das Management sich an die Vertragsklauseln und vermittelt es den Anlegern das gute Gefühl, dass die Kreditkennzahlen eingehalten werden. Welchen Charakter hat das Unternehmen? Sektor, Größe, Liquidität und Ruf sind zentrale Aspekte, des es zu berücksichtigen gilt, wenn man aus Überzeugung in Unternehmensanleihen investieren will.

    • Die europäischen Hochzinsmärkte (HY) erholen sich weiter in kleinen Schritten und schlossen die Woche bei -1,36% für das Jahr. Während wir auf das letzte Quartal zugehen, wird klar, dass die Ausfallraten für 2020 unter 3,00% liegen könnten! Staatsgarantien und Lockerungen der Kreditbedingungen durch die EZB haben den Begriff der kreativen Destruktion vom Tisch gewischt. Joseph Schumpeter dürfte geschockt sein. Wie kann ökonomische Innovation gedeihen, wenn Zentralbanken und Regierungen alle Unternehmen über Wasser halten? Moral Hazard und Mangel an Innovation gehen heute Hand in Hand. Doch kreative Destruktion ist eine wesentliche Komponente, die echtes Wirtschaftswachstum ermöglicht, wie oben erläutert.

    • Staatsanleihen der Schwellenländer (EM) in Lokalwährung entwickelten sich analog zu denen der Industrieländer. Der Spread des GBI-EM-Index lag auf dem Niveau der Benchmarks für weltweite Staatsanleihen bei 3,80%. Der Spread von Fremdwährungsanleihen (EMBI-GD-Index) weitete sich im Wochenverlauf um 10 Bp. (4,24%) aus, angeführt vom HY-Segment. Der Spread von Subsahara Afrika in Hartwährungen weitete sich um 8 Bp. (6,85%) aus, während sich der Spread von IG-Anleihen nur um 2 Bp. (auf 2,18%) ausweitete.

 

    • Die Mittelzuflüsse in die Anlageklasse lagen immer noch im positiven Bereich, auch wenn sie sich erheblich abschwächten (400 Mio. USD gegenüber 1,9 Mrd. USD in der Vorwoche), wobei die meisten Gelder in Fonds in Hartwährung flossen. Das Gesamtangebot an auf Hartwährung lautenden Staatsanleihen lag bei 7,7 Mrd. USD, wobei insbesondere Mexiko, Bulgarien und die Dominikanische Republik den Markt anzapften. Die Transaktionen stießen auf Interesse bei den Anlegern und wurden mühelos aufgenommen.

 

    • Schwellenländerwährungen verzeichneten mit +0,96% eine starke Performance gegenüber dem Euro. Die beste Entwicklung verbuchte der südafrikanische Rand (+4,38%), da die Zentralbank (SARB) trotz der Prognose einer tieferen Kontraktion des BIP 2020 ihren Leitzins unverändert ließ. Auch der südkoreanische Won (+2,28%) und der mexikanische Peso (+2,05%) entwickelten sich sehr gut. Währenddessen wertete der georgische Lari (-3,52%) gegenüber dem Euro ab, gefolgt von der türkischen Lira (-1,43%) und dem ungarischen Forint (-1,16%). In der Woche gab es zahlreiche Zentralbanksitzungen – in Taiwan, Indonesien, Südafrika, Brasilien und Russland. Wir weisen darauf hin, dass alle ihren Leitzins unverändert ließen, was darauf hindeutet, dass sich ihr Zinssenkungszyklus dem Ende nähert. Die meisten von ihnen befinden sich jetzt in einer Wartestellung, um die tatsächlichen Auswirkungen ihrer akkommodierenden Gelpolitik einzuschätzen, während die Volkswirtschaften wieder geöffnet werden. Für Lokalwährungsanleihen bedeutet das, dass Durationsgewinne weniger Unterstützung vom kurzen Ende der Zinsstrukturkurve erhalten. Dies kann für Schwellenländerwährungen jedoch von Vorteil sein, da sie von einem relativ hohen Carry im Vergleich zu den Industrieländern profitieren, während die Inflationserwartungen weiterhin gemäßigt sind und die Leistungsbilanzdefizite aufgrund geringerer Importe schrumpfen. Ganz allgemein dürfte die wirtschaftliche Erholung in Verbindung mit der Schwäche des US-Dollars Unterstützung für eine zyklische Anlageklasse wie Schwellenländerwährungen leisten.

FAZIT

Beim Aufbau robuster Portfolios sollte man Raum für das oben beschriebene Risikoszenario schaffen. Die Allokation in nominalen Staatsanleihen von nachhaltigen Volkswirtschaften sollte erkennbar sein. Anleger sollten darüber hinwegsehen, dass derartige Anlagelösungen mit einer geringen Rendite verbunden sind. Die Funktion der Diversifizierung und des Kapitalerhalts einer solchen Portfoliokomponente wird Ihr Volatilitätsprofil glätten.

Die Wirtschaftslehre verdient mehr Beachtung. Man sollte sehr genau unterscheiden. Wirtschaftswachstum gegenüber Expansionen und Kontraktionen, die Produktionsfunktion, die Transformationskurve, die marginalen, verschwindenden Renditen der Faktoren Arbeit und Kapital, die Rolle von Technologie usw. – all diese Begriffe erfordern ein solides Verständnis. Diese richtig mit dem Schauspiel an den Finanzmärkten, das von spekulativen privaten und institutionellen Anleger inszeniert wird, zu verknüpfen, ist von vorrangiger Bedeutung.

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